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Literatur an der Grenze

In Interviews zum Projekt „Streetview Literatur“ bin ich oft gefragt worden, wo mir die Idee zu Streetview Literatur gekommen ist. Natürlich wollte jeder hören: in der Stadt, in den Straßen von München, im Getümmel von Menschen, deren Geschichte ich erfahren wollte. Aber so war es nicht. Um ehrlich zu sein, ich habe mich einfach hingesetzt und mir überlegt, was man in Sachen Literatur Spannendes mit dem Internet machen könnte. Was ist denn digitale Literatur? Was kann denn digitale Literatur sein? Ganz sicher nicht nur Literatur im Internet oder Literatur in digitalem Format (sprich eBooks). Das Internet bietet uns in allen Bereichen unseres Lebens vielfältige neue Möglichkeiten. Das Internet verändert unser Leben in allen Bereichen so radikal und einschneidend. Da sollte es für die Literatur doch auch interessante Ansatzpunkte geben?! Genau dies war der Ausgangspunkt für Streetview Literatur. Der Anspruch digitale Literatur zu schaffen, die sich mit den Bedingungen des Internets auseinandersetzt und dessen Möglichkeiten nutzt.

Was ist real?
Das Internet wirft u.a. zwei elementare Fragestellungen auf: Zum einen die Unterscheidung zwischen real und digital. Was ist real? Was gehört zum echten, richtigen Leben? Und was ist digital, virtuell und passiert im Internet? Heute wissen wir, dass diese Unterscheidung so gar nicht (mehr) funktioniert (oder vielleicht sogar noch nie funktioniert hat). Was im Internet oder durch das Internet passiert, gehört genauso zum echten Leben wie das „echte“ Leben selbst. Mit dem Internet der Dinge, wenn sich also das Internet nicht mehr in diese Kiste hier (den Computer) sperren lässt, sondern ganz offensichtlich überall ist, gilt dies noch viel mehr. Das Internet ist ein allgegenwärtiger und selbstverständlicher Teil des realen Lebens. Analog und digital sind lediglich zwei unterschiedliche Zugänge zur Welt.

Was ist privat?
Die zweite Unterscheidung, die das Internet trifft und an deren Auflösung es arbeitet, ist: öffentlich vs. privat. Mit dem Internet wird so vieles, das bisher privat war, öffentlich. Zum Teil freiwillig, wenn Menschen im Internet Dinge Preis geben, die sie sonst unter Verschluss halten (natürlich mit „Nebenwirkungen“, denn – wie vorher gesagt – das bleibt ja nicht im Internet, sondern wirkt im echten Leben), zum anderen unfreiwillig durch die Übergriffe von Geheimdiensten und Unternehmen. Auch hier stellt sich die Frage: Was ist denn heute noch privat? Was lässt sich noch privat halten? Ist das Private überhaupt noch haltbar?

Literatur an der Grenze
In beiden Fragestellungen – real vs. digital, öffentlich vs. privat – arbeitet das Internet an der Auflösung der Unterscheidungen. Das sind die spannenden Grenzziehungen, die in der Beschäftigung mit dem Internet im Fokus stehen und stehen müssen. Mit meinem Streetview Literatur Projekt wollte ich genau an diesen Fragen arbeiten: real vs. digital, öffentlich vs. privat.

In Streetview Literatur stöbert man Personen an realen Orten hinterher und erfährt deren Geschichten, die fiktiv sind oder tatsächlich so passiert. Wer weiß das schon? Die Verbindung mit den konkreten Orten und Straßenangaben in der Stadt gibt den Geschichten natürlich eine Verlässlichkeit, die das ganze real erscheinen lässt. Streetview Literatur ist der Ort, an dem fiktive Geschichten real werden.

Der Name „Streetview“ steht aber nicht nur für den Blick auf die Straßen und die Geschichten, die sich dort abspielen. „Streetview“ nimmt explizit Bezug auf Google Street View – und dies 2010 zu einem Moment als Google mit seinen Autos und Kameras durch die Welt fuhr und Aufnahmen machte. Damals kam die Diskussion auf, ob die Hausfassaden öffentlich sind oder privat. Sind da Einblicke möglich, in das, was sich hinter den Fassaden abspielt? Genau daran knüpft Streetview Literatur an: Das Projekt sollte die Möglichkeit bieten, die Geschichten hinter den „Fassaden“ der Menschen zu erfahren. Dinge über jemanden erfahren, die sonst verborgen bleiben.

Real – fiktiv, öffentlich – privat: Das ist der Rahmen, in dem sich Streetview Literatur konzeptionell bewegt. Streetview Literatur nutzt die Möglichkeiten des Digitalen, um zwei der zentralen Fragestellungen des Digitalen in literarischer Form zu bearbeiten.

> Im Geflecht von Streetview Literatur
> Wenn reale Geschichten fiktiv werden

Published inInnovation - gedacht, gesagt, getanStreetview Literatur - Stadt lesen