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Wenn aus immer mehr weniger werden soll

Von der Paradoxie des Optimierens – am Beispiel der Automobilindustrie

Um es klarzustellen: Ich habe nichts gegen die Automobilindustrie. Im Gegenteil. Ich liebe sie als Anschauungsobjekt in Sachen Innovation. Schließlich gibt es keine Branche, die die Instrumente des Optimierens, Verbesserns, Entwickelns und Innovierens an einem Produkt ernsthafter, konsequenter und erfolgreicher umsetzt als die Automobilbranche. Und sie führt uns noch eine andere Sache vor Augen – nämlich den Mechanismus, wie selbst signifikante Verbesserungen und stetes Optimieren nicht zu einer Verbesserung des Gesamtzustandes führen, sondern lediglich ein Mehr des Negativen, der schädlichen Effekte ermöglicht. Ein Ausweiten der Grenzen, an die man schon zu stoßen schien. Ein Verschieben und Aushebeln dieser Grenzen, um weiter ein immer Mehr zu ermöglichen. Dies ist ein Mechanismus, der keineswegs auf die Automobilindustrie beschränkt, sondern in unserer Gesellschaft als grundlegendes Prinzip weit verbreitet ist. Gerade dies macht die Automobilindustrie als Anschauungsobjekt so interessant.

Aber der Reihe nach:

Optimieren ist eine tolle Sache. Etwas verbessern, entwickeln, voranbringen. Wer kann da etwas dagegen haben. Fehler und Schwachstellen beheben, Probleme beseitigen, Produkte und Prozesse weiterentwickeln, ganz neue Ideen umsetzen, um Bestehendes zu verbessern und voranzubringen. Das ist das Elixier unserer Wirtschaft. Verbesserung, Entwicklung, Innovation. Wer erfolgreich wirtschaften will, muss dieses Metier beherrschen. Die gesamte Wirtschaft – wir alle leben davon.

Von den Profis lernen

Und es gibt eine Branche, die uns wie kaum eine zweite vormacht, wie das geht mit dem Optimieren – die Automobilbranche. Seit über 100 Jahren arbeitet sie an ihrem Produkt, entwickelt und optimiert es immer weiter. Mit unglaublicher Professionalität, Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit hat sich die Automobilbranche der Verbesserung und Weiterentwicklung ihres Produktes wie auch ihrer gesamten Arbeitsweise zur Herstellung dieses Produktes verschrieben. Kaum eine Branche dürfte die japanische Lehre des Kaizen – der steten Veränderung zum Besseren – ernster genommen haben. Ganzen Managementmodellen liegt die Idee des steten Optimierens zugrunde: der kontinuierliche Verbesserungsprozess (KVP) handelt davon, das Total-Quality-Management (TQM) ist damit verbunden wie auch das Lean Management oder Six Sigma. Die Namen und Kürzel sind unterschiedlich, die Grundidee immer gleich. Es geht ums besser werden. Es geht darum, die Arbeitsweise und Prozesse im Unternehmen zu optimieren, damit das Produkt und seine Qualität besser, die Produktivität höher und der Kunde zufriedener wird. In den 90er Jahren wehte der Geist des steten Verbesserns geradezu exzessiv durch die Werkhallen aller deutschen Automobilhersteller und er ist auch heute nicht aus ihnen wegzudenken. Genauso wie eine zweite Sache, die über das reine Optimieren von Prozessen und die inkrementelle Weiterentwicklung des Produkts weit hinausgeht. Die Innovation. Der Fetisch heutigen Wirtschaftens. Der Virus, den Joseph Schumpeter bereits 1911 als Bedingung wirtschaftlicher Entwicklung identifiziert und unseren Köpfen und Konzepten eingepflanzt hat. Genau zu dem Zeitpunkt, als das Automobil in Entwicklung, Herstellung und Verbreitung an Fahrt gewann. Vielleicht ist es tatsächlich der gemeinsame Geist, den die beiden atmen, der sie bis heute so stark aneinander bindet. Gerade in Deutschland stechen die Automobilhersteller durch ihre Innovationsfreude und Innovationserfolge hervor. Mit 20 Milliarden Euro (in 2010 – Tendenz steigend) investiert die deutsche Autobranche mehr als ein Drittel der gesamten F&E-Investitionen der deutschen Wirtschaft. Und das mit Erfolg. Denn durchschnittlich sind es 10 Patente am Tag, die von Automobilherstellern angemeldet werden. Die meisten von ihnen betreffen Innovationen zur Effizienzsteigerung und zum Klimaschutz. Die Autobauer haben sich auf den Weg gemacht, das Auto „ganz neu zu denken“, um es den aktuellen Herausforderungen angemessen zu optimieren.

Leider suboptimal

Doch optimiert ist nicht optimal und was optimal ist, muss noch lange nicht gut sein. Denn so viel auch optimiert und innoviert wird, entwickelt, verbessert, ingenieurt und gemanaged, das, was da erreicht wird, kann meist immer noch verbessert werden. Das liegt in der Natur der Sache. Wird der Prozess des Optimierens erst mal in Gang gesetzt, geht er immer weiter. Ein Perpetuum Mobile der Verbesserung. Und selbst die Verbesserungen, die im Einzelnen erreicht werden, entpuppen sich aufs Ganze gesehen nicht selten als ihr Gegenteil. Das liegt an den gegenläufigen Effekten, die die Optimierungen konterkarieren, vor allem aber überkompensieren. Schauen wir uns dies an Beispielen aus der Automobilindustrie an.

In den 60er Jahren stieg die Zahl der Verkehrsopfer in Deutschland immer mehr an, bis 1970 sogar auf den Höchststand von 19.193 Toten (bei einer Gesamtzahl von nahezu 550.000 Verkehrsopfern). Die Automobilindustrie handelte. Sie arbeitete daran, das Problem in den Griff zu bekommen und entwickelte zuerst den Gurt, dann Airbag, ABS, Seitenaufprallschutz usw. Mit Erfolg. Heute liegen die Opferzahlen bei ca. 375.000, davon 3.648 Tote in 2010. Das ist eine Reduzierung der Todesopfer um 92 Prozent je 1000 Fahrzeuge. Also tatsächlich ein beachtlicher Erfolg, von dem wir hier sprechen. Und doch ist das Erreichte nicht optimal. Im Gegenteil. Es ist kaum eine andere Technologie denkbar, bei der so hohe Todes- und Verletztenzahlen als kalkulierte Begleiterscheinung des Normalbetriebs akzeptiert würden. Man stelle sich nur mal vor, durch den regulären Gebrauch des Internets kämen Menschen ums Leben. Kaum auszudenken, zu welchen Diskussionen, Beschränkungen, sogar Abschaffungsszenarien es kommen würde. Die Autoindustrie weiß das selbst und so geht die Entwicklung weiter. Mit der Vernetzung von Fahrzeugen, dem digitalen Auto arbeitet die Branche weiter an der Verbesserung der Sicherheitssituation des Autofahrens. So lässt uns der Verband der deutschen Automobilindustrie (VDA) teilhaben an seiner „Vision vom unfallfreien Fahren“ und an den Bemühungen der Branche, diese herbeizuoptimieren. Doch angesichts der weltweiten Opferzahlen erscheinen uns die Automobilingenieure auf verlorenem Posten. Denn schaut man sich die weltweiten Zahlen an, traut man sich kaum an Verbesserungen zu denken. 1,3 Millionen Menschen sterben jährlich weltweit durch Verkehrsunfälle. Das entspricht einer Zunahme allein in den letzten 20 Jahren von 76 Prozent. Die WHO weist darauf hin, dass – sollte dieser Trend anhalten – bis 2030 Verkehrsunfälle die fünfthäufigste Todesursache sein werden. Die Optimierungen der Sicherheitstechnologie im Auto führte also zu Verbesserungen im Einzelnen, aber keineswegs zu einer Verbesserung der Gesamtsituation. Im Gegenteil. Sie führten zu einer massiven Verschlechterung. Dies liegt natürlich vor allem an der massenhaften Verbreitung des Autos. Von 1970 bis heute hat sich der Autobestand weltweit vervierfacht. Die sicherheitstechnologischen Optimierungserfolge wurden durch die weltweite Verbreitung des Autos also weit überkompensiert. Eine paradoxe Situation: Verbesserungen im Einzelnen, so eklatant und bemerkenswert sie sind, haben zu einer Verschlechterung des Gesamtzustandes geführt. Doch damit nicht genug. Treffender ist es zu behaupten, dass durch die Optimierungen im Einzelnen, eine Verschlechterung des Gesamten überhaupt erst möglich wurde.

Aus weniger wird mehr

Dabei geht das Wachstum der Branche bzw. die Verbreitung des Autos unvermindert weiter. Allein bis zum Jahre 2025 werden nach konservativen Prognosen die Pkw-Verkäufe weltweit um 50 Prozent steigen. Dies vor allem durch die Nachfrage aus Asien. Um dieses Potenzial tatsächlich heben zu können, steht die Branche unter enormem Innovationsdruck. Druck vor allem durch die Umwelt- und Klimaprobleme sowie die sich verschärfende Ressourcenknappheit. Das Auto muss sauber und genügsam werden. „Angesichts steigender Emissionsanforderungen und zunehmender Rohstoffknappheit ist das gesamte Konzept individueller Mobilität in Gefahr. Nur über innovative und bezahlbare Technologien – vor allem bei Antriebskonzepten und bei Werkstoffen – lässt sich das volle Wachstumspotenzial […] realisieren.“ So konstatierte eine Beratungsfirma bereits vor einigen Jahren. Die Branche muss also zuallererst die Voraussetzungen dafür schaffen, dieser enormen Nachfrage nachkommen zu können. Sie muss die negativen Effekte des Autofahrens soweit verbessern, optimieren, reduzieren, minimieren, dass eine weitere Ausbreitung des Autos möglich wird. Verbesserungen im Einzelnen, um Verschlechterungen des Gesamten zu verkraften. Das heißt Innovation und die Optimierung des Produktes Auto ist für die Branche nicht mehr nur deshalb so wichtig, um das Auto durch neue Technologien für den Käufer interessant zu machen und dadurch die Nachfrage weiter anzukurbeln, sondern darum, die negativen Wirkungen des Autos soweit zu reduzieren, dass die Effekte im Gesamten gerade noch erträglich und tragbar werden. Nicht die Nachfrage muss hier generiert werden, sondern die Rahmenbedingungen, um sie zu realisieren. Die Verbesserung des Autos macht ein Mehr an Autos überhaupt verkraftbar. Die dabei zu erwartenden Effekte sind wiederum die der Überkompensation. Denn die Zeit bis 2025 ist knapp, zu knapp, um die Emissionsreduktion ausreichend, vielleicht sogar bis zur Null-Emission voranzutreiben. Und selbst die vielbeschworene Elektromobilität braucht erstens Zeit und ist zweitens ja nur so sauber wie der Strom, den sie verwendet. Die Konzepte, Lösungen, Optimierungen hinken in jedem Fall der rasanten Verbreitung des Autos hinterher. Die Optimierungen der Klimaverträglichkeit bis hin zur Null-Emission erweisen sich als Eintrittskarte in die Wachstumsmärkte, als Fahrkarte zum prognostizierten Wachstum. Sie ermöglichen die Einlösung prognostizierter Chancen. Und in Summe die Verschlechterung des Gesamtzustandes.

Wer jetzt denkt: ja, mal wieder die (Groß-)Industrie, zumal die Automobilindustrie mit ihrer perfekten Lobbyarbeit, der sollte sich nicht vorschnell exkulpieren. Denn der schwarze Peter des Optimierens zum Gesamt-Schlechteren ist tatsächlich schwer aus der eigenen Hand zu kriegen. Unsere Gesellschaft, unser gesamtes Zusammenleben ist durchdrungen von Optimierungserfolgen, die in Summe zum Schlechteren führen. Optimierungen, die ein Mehr an negativen Effekten ermöglichen. Ein Beispiel aus dem Privaten mag an dieser Stelle genügen. Beinahe 37 Mio. Tonnen Müll fallen jährlich in deutschen Haushalten an. Das meiste davon wird noch in den Haushalten mehr oder weniger säuberlich getrennt und dann auf den verschiedenen Wegen entsorgt, d.h. verrottet, verbrannt und wo möglich wieder verwertet. Eine enorme Reduzierung bzw. Auflösung der Müllberge. Eine Optimierung des Müllproblems unserer Konsumgesellschaft. Seit Inkrafttreten des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes in 1996 praktizieren wir dies. Seither führen wir unseren Hausmüll dem Recycling zu. Mit dem Effekt, dass die Menge des Hausmülls seit den 70er Jahren in Deutschland von 244 kg auf 450 kg pro Einwohner und Jahr gestiegen ist. Das gute Gewissen, wenn wir die Plastikverpackung von unseren frischen Einkäufen nehmen und in den Plastikmülleimer entsorgen, mag Anteil daran haben. Jede Flasche, jeder Karton, jede Folie – jedes Stückchen Abfall, das im richtigen Container und in der richtigen Mülltonne landet, verschafft uns ein gutes Gefühl. Man hat seinen Beitrag zur sauberen Umwelt geleistet. Man leistet ihn jeden Tag. Permanent. Wer wollte da darüber nachdenken, dass es vielleicht sogar ohne diese Verpackung gehen könnte. Das gute Mülltrennungsgefühl lenkt von dem ab, was man – was jeder von uns – da tut: Müll produzieren, wo Müllproduktion vielleicht gar nicht nötig wäre. Es lenkt vom eigentlichen ab: von der Notwendigkeit der Müllvermeidung durch unser privates Konsum- und Verpackungsverhalten. Und damit von einem anderen Ansatz, der nötig wäre, um tatsächlich etwas zu verbessern. Nämlich zu weniger Müll zu kommen statt über den Mechanismus der Mülltrennung zu immer mehr.

Zurück zur Idee

Doch fragt man sich, was denn der eigentliche Sinn und Zweck der Optimierungsbemühungen ist, so ist klar: es geht uns um nichts Geringeres als um unsere Zukunft. Wer Müll trennt, möchte einen Beitrag zur sauberen Umwelt leisten. Die Autoindustrie möchte die Grundlage für ihr Geschäftsmodell sichern, um auch in Zukunft Gewinne zu realisieren. Das Konzept individueller Mobilität in die Zukunft retten – das ist der Handlungsdruck, dem sich die Autoindustrie gegenübersieht. Ob sie mit der Optimierung des Produktes Auto die geeigneten Mittel einsetzt, ist fraglich. In den nächsten Jahren realisiert die Branche zwar mit dem Wachstum in Asien enorme Gewinne. Langfristig bringen die Optimierungsbemühungen das Geschäftsmodell „individueller Mobilität“ aber eher in Gefahr. Denn dieses Geschäftsmodell ist dabei unter Druck zu geraten. Nicht aufgrund der limitierenden Parameter – zunehmende Emissionsanforderungen oder Rohstoffknappheit –, an deren Verschiebung ja, wie gezeigt, gearbeitet wird, sondern durch die Veränderung der Idee von Mobilität selbst. Erstmals besitzen 35 Prozent weniger 19-25 jährige Männer ein Auto. Gerade in Städten verliert das Auto an Bedeutung. Denn in Städten mit entsprechender Infrastruktur lässt es sich ohne Auto leichter mobil sein als mit, und auch kostengünstiger. Das Auto wird sich daran gewöhnen müssen, in einem Netzwerk an Mobilitätsangeboten ein Verkehrsmittel unter anderen zu sein. Nutzung statt Besitz ist die Maxime, gerade bei der jüngeren Generation. Bei ihr musste das Auto als Statussymbol seinen Status bereits an elektronische Geräte – Smartphones, Notebooks, Tablets – abgeben. Die Idee individueller Mobilität verliert an Attraktivität. Da kann das Produkt Auto noch so weit verbessert werden. Das eine hat mit dem anderen gar nichts zu tun. Nicht das Produkt Auto muss neu gedacht werden, sondern das Auto als Idee. Nicht die Optimierung des Autos darf im Fokus stehen. Sie lenkt eher vom eigentlichen, vom relevanten Fokus ab und verwirklicht das Konzept des Individualverkehrs, ohne es weiterzuentwickeln unter Bedingungen des heutigen Status Quo. Die Optimierungserfolge und erreichbaren Wachstumserfolge verstellen den Blick auf die wahre Herausforderung – die Herausforderung die Idee der individuellen Mobilität neu zu denken. Erste, noch zaghafte Schritte zeigen sich in der Branche: der Wechsel von Automobilherstellern zu Mobilitätsanbietern. Nur wer in diesem Wechsel tatsächlich mehr sieht als eine marketingwirksame Bezeichnungsänderung, verschafft sich realistische Zukunftschancen. Hier vollzieht sich ein Paradigmenwechsel, der den Umbau einer ganzen Branche bedeutet. Eine Herkulesaufgabe – für eine Branche, die gewohnt ist, ihr Produkt zu optimieren. Aber die Idee des Autos neu zu denken, das ist eine andere Disziplin. Eine Herausforderung, mit der die Automobilindustrie bisher wenig Erfahrung hat.

Auch dies gilt nicht nur für die Autobranche. Unsere gesamte Gesellschaft ist es gewohnt zu optimieren, um weitermachen zu können wie bisher. Und verliert bei all den Optimierungserfolgen das Eigentliche aus den Augen: nämlich die Idee, die all den Bemühungen zugrunde liegt. Doch – wie gesagt – optimiert ist nicht optimal und damit etwas gut wird, geht der Weg nicht immer voran, sondern meist auch einen Schritt zurück. Vielleicht genügt es, sich dessen bewusst zu werden, um Ideen ganz neu zu denken.

 

Published inInnovation - gedacht, gesagt, getan